Son of Saul

Son of Saul

Mo, 11. — Sa, 16.12.2017 | 17:30 Uhr bzw. Sa 15:00 Uhr | City-Kino

H/F 2015, Regie: László Nemes, Drehbuch: László Nemes, Clara Royer, K: Mátyás Erdély, S: Matthieu Taponier, Darsteller: Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Todd Charmond, 107 Minuten, OmdUT

Trailer:


Inhalt:


© Thimfilm

Saul Ausländer, ein Ungar jüdischer Abstammung, ist im Oktober 1944 Mitglied eines Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau. Seine Gruppe bereitet eine gewaltsamen Aufstand vor, während er nur von einem Gedanken besessen ist: Er behauptet, in der Leiche eines Jungen seinen Sohn wiedererkannt zu haben. Er füllt sich von der Mission erfüllt, dem Kind ein würdiges Begräbnis zu gestalten, also dessen Verbrennung zu vermeiden. Dazu benötigt er einen Rabbi, der ein Kaddisch spricht…

Hintergrund: „Mit der bewusst vage gehaltenen Bezeichnung „Sonderkommando“ wurde von der SS die Gruppe von Gefangenen bezeichnet, die die Krematorien zu überwachen hatte. Ihnen fiel die Aufgabe zu, die Ordnung unter den Neuzugängen aufrechtzuerhalten, die in die Gaskammern gebracht werden mussten und oft gar nicht ahnten, welches Schicksal sie erwartete; die Leichen aus den Gaskammern zu entfernen; die Goldzähne aus den Kieferknochen herauszubrechen; (…) die Kleidungsstücke, Schuhe und Kofferinhalte auszusortieren und zu klassifizieren; die Leichen zum Krematorium zu bringen und die Öfen zu warten; die Asche herauszuholen und zu entfernen. (…) Diese Sonderkommandos entgingen nicht dem Schicksal der anderen Häftlinge, im Gegenteil, von Seiten der SS wurde jede erdenkliche Sorgfalt darauf verwendet, dass keiner, der zu ihnen gehörte, überleben und erzählen könnte. (…) Die Sonderkommandos wurden von den anderen Gefangenen und der Außenwelt streng abgeschirmt, da sie Mitwisser eines grauenhaften Geheimnisses waren.“ (Primo Levi Die Untergegangenen und Geretteten)


Der Regisseur:


© Thimfilm

László Nemes wurde als Sohn des ungarischen Filmregisseurs Andras Jéles und der jüdisch-ungarischen Mutter Anikó Kiss in Budapest geboren. Er wuchs zwischen 1989 und 2003 in Paris auf. Er ging zum Film und begann 2005, sich mit Assistenzarbeiten bei Filmproduktionen einen Namen zu machen. 2006 setzte er seine Ausbildung in New York City an der „Tisch School of the Arts“ fort. 2007 assistierte er Béla Tarr bei dessen Film The Man from London. 2007 wurde sein Kurzfilm Türelem bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gezeigt; der Film wurde in Ungarn ausgezeichnet und für den Europäischen Filmpreis 2008 nominiert.
Nemes schrieb mit Clara Royer das Drehbuch zu seinem ersten Langfilm Saul fia und führte die Regie. Die Produktionskosten des Films wurde von der staatlichen ungarischen Filmförderung und der Claims Conference in New York übernommen. Der Film wurde 2015 in den Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes eingeladen. Der Film zeigt 36 Stunden im Leben eines jüdischen KZ-Häftlings im Vernichtungslager Auschwitz im Jahr 1944. Die Kamera ist über zwei Filmstunden auf Armeslänge vor dem Gesicht oder hinter dem Protagonisten positioniert und zeigt das Geschehen dem Zuschauer nur verschwommen. Saul fia gewann in Cannes den Großen Preis der Jury sowie den FIPRESCI-Preis. Im Januar 2016 wurde er bei den Golden Globe Awards 2016 und im Februar 2016 bei der Oscarverleihung 2016 als Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet.

Aus einem Interview mit der „Welt“:

Die Welt: Die üblichen Holocaust-Filme zeigen, was im KZ geschah, wenn auch in einer „zumutbaren“ Weise.
László Nemes: Aber das reduziert die Teilnahme des Zuschauers. Es stellt eine Entfernung der Gefühle von dem, was man sieht, her. Ich wollte den Zuschauer an seinen Emotionen packen und seine Chancen, ihnen zu entkommen, so weit wie möglich beschränken. Dazu muss man die Aufmerksamkeit auf eine einzige Person fokussieren. Ansonsten versucht man, zu viel zu zeigen. Man wird eine Art Begleiter. Er schaut nicht auf den Schrecken, der ihn umgibt. Es ist sein Schutzmechanismus. Der Zuschauer nimmt nur wahr, was der Häftling wahrnimmt.

Die Welt: Sie müssen lange an der Tonspur gearbeitet haben.
László Nemes: Über vier Monate. Denn der Ton soll andauernd suggerieren, dass da mehr ist, als das Auge sieht.

Die Welt: Wie wählt man Töne für etwas aus, das nicht zu sehen ist?
László Nemes: Die Antwort wäre ungeheuer komplex. Ich will es so sagen: Sie hat etwas mit Musik zu tun, die Arbeit hat sich wie Komponieren angefühlt, und der Sound-Designer ist auch Komponist. Aus einem Ton sollte der nächste entspringen, wie Schlangen, die einander in die Schwänze beißen. Es gibt zum Beispiel eine Sirene, die in den Schrei eines Menschen übergeht. Es durfte die Aufnahmefähigkeit des Publikums nicht überschreiten, sollte aber stets nahe an der Grenze sein.

Die Welt: Ein Blockbuster heutzutage hat 2000 bis 3000 Schnitte im Verlauf von zwei Stunden. Und Ihr Film?
László Nemes: Ungefähr 90.
Die Welt: So wenige?! Jeder, der den Film gesehen hat, kam mit dem Eindruck eines hoch dynamischen Films heraus.
László Nemes: Es gibt heutzutage eine Inflation von Schnitten. Das Auge und das Gehirn des Menschen brauchen nicht so viele.


Kritikerstimmen:


© Thimfilm

Die ersten zehn Minuten von SAUL FIA sind unfassbar, man wird mit Saul Ausländer geradezu in einen vorwärtstreibenden Sog, in einen akustischen Maelstrom getrieben, der einem das Funktionieren der Todesfabriken fast somatisch nachvollziehen lässt: die Ankunft eines Transports im Vorhof der Gaskammern, das Entkleiden, das Hineinschieben der nackten Menschen in die sogenannten Duschräume. (…) Dann das Öffnen der Türen, das Herauszerren und Aufstapeln der Leichen, das Säubern der Gaskammern. Während der Vergasungen wurden die Kleidungsstücke nach Schmuck, Gold und anderen Wertsachen durchwühlt. Georges Didi-Huberman hat für dieses reibungslose, gehetzte Funktionieren den treffenden Begriff des Panikbildes verwendet.
(Markus Vorauer, Kaddisch für ein totes Kind. Bedeutungsextension durch Einengung des Point-of-View in SORSTALANSÁG von Imre Kertész und in SAUL FIA von László Nemes)

DGéza Röhrig meistert die enorme Herausforderung, die die Rolle des Saul an ihn stellt, eindrucksvoll; seine Darstellung eines Mannes, der seiner Menschlichkeit beraubt wurde und nun versucht, durch einen symbolischen Akt (und mag dieser auch noch so sinnlos erscheinen) Erlösung zu finden, ist ebenso reduziert wie intensiv.
(RAY, Oliver Stangl)

Braucht die Welt solche Werke (noch)? Nach dem Festival in Cannes lobte ein Kritiker die Wucht, Härte und Originalität, betonte aber auch, es sei unvorstellbar, diesen Film ein zweites Mal durchzustehen. In der Tat wird niemand diesen Film „gerne sehen“ – dazu ist er zu sehr Tortur, zu schmerzhaft in seiner Intensität. Aber gerade darin liegt seine ungeheure Kraft: an die unvorstellbare Grausamkeit des KZs nicht bloß zu erinnern, sondern die Bedingungen – die Beklemmung, die Panik, die unfassbare Gewalt – mit Hilfe einer ganz eigenen Filmsprache beinah physisch erfahrbar zu machen.
(epd-film, Frank Schnelle)


Filmografie:


© Thimfilm

2007: Türelem (Kurzfilm)
2008: The Counterpart (Kurzfilm)
2010: Az úr elköszön (Kurzfilm)
2015: Saul fia